Zum Abschluss gab es sogar Standing Ovations

Sieben Stunden abwechslungsreiches Programm zeichnete das erste „Festival der Vielfalt“ am Donnerstag (28. November) im Paul-Gerhardt-Haus in Münster aus. Als kurz nach 22 Uhr vom Münsteraner Schwulenchor „Homophon“ nicht nur eine Zugabe gefordert wurde, sondern nach dieser es auch noch Standing Ovations gab, konnte Organisator Werner Szybalski (oben im Bild von Pjer Biederstädt [WN] neben mit der ehemaligen Münsteraner Oberbürgermeisterin Marion Tüns) mit der Auftaktveranstaltung sehr zufrieden sein. „Natürlich hätten es noch ein paar Besucher*innen mehr sein können, aber erstens war das Wetter sehr schlecht, so dass die Münsteraner*innen auch gern zu Hause bleiben, und zweitens sind wir in Westfalen, wo die Menschen sich lieber zunächst von der Premiere berichten lassen, als sich selbst einen persönlichen Eindruck zu machen“, hatte Szybalski dafür eine Erklärung: „Es waren aus meiner Sicht auf jeden Fall genügend Menschen da. Angesichts des Schietwetters hatte ich nicht wirklich mit stärkerem Besuch gerechnet. Ich wünsche mir natürlich, dass – insbesondere für die engagierten Vertreter*innen hinter den Informationstischen der Initiativen und Vereinigungen und auch für die Gäste auf der Bühne – beim zweiten Festival die Hütte voll ist.“

Der schwule Männerchor Homphon rundete das erste Festival der Vielfalt ab.

Um 15 Uhr eröffnete der erste Moderator des Teams, Jürgen Buxbaum, das Festival. Zur Begrüßung sprach Dr. Georgios Tsakalidis (Integrationsrat der Stadt Münster) über Münster als Stadt der Vielfalt. Musikalisch gestalteten zwischen den verschiedenen Wortbeiträgen Martje Saljé, Johannes „Hennes“ Drees und Clemens August Homann, die Gruppe Easy Cover Compact, die ersten Stunden des Festivals.

Martje Saljé legte klasse los.

Svenja Bloom von der Seebrücke Münster war der erste Interviewgast auf dem Podium. Buxbaum ließ die Aktivistin den „langen Weg zum Sicheren Hafen“ Münster erläutern. Eigentlich sollten beim Festival der Vielfalt Unterschriften für das Bürger*innenbegehren der Seebrücke gesammelt werden. Dies war glücklicherweise nicht mehr notwendig, da inzwischen auch die schwarz-grüne Ratsmehrheit in Münster eingesehen hatte, dass die westfälische Friedensstadt mit ihren sehr für Flüchtlinge engagierten Einwohner*innen sich dem Anliegen eine Stadt des Sicheren Hafens zu sein, nicht länger glaubhaft verweigern konnte.

Svenja Bloom (Seebrücke).

Peter Jehkul und Thiemo Kisnat vom Pflegebündnis gaben einen Einblick in die auch in Münster nicht rosigen Arbeitsbedingungen der Pfleger*innen und die damit verbundenen erheblichen Defizite für viel zu viele zu pflegende Menschen in Krankenhäusern, Senioreneinrichtungen, Spezialkliniken und natürlich auch in der ambulanten Pflege. Beide warben dafür, dass noch mehr Pfleger*innen und natürlich auch potentielle Patient*innen aus dem Münsterland sich im Pflegebündnis Münster engagieren sollten. Thiemo Kisnat verwies auf die Webseite des Care-Bündnisses, die in jüngster Zeit relauncht worden wäre.

Festival-Moderator Jürgen Buxbaum (l.) interviewte Peter Jehkul (r.) und Thiemo Kisnat vom Pflegebündnis Münster.

Anschließend übernahm Jan Große Nobis die Veranstaltungsmoderation und bat zunächst Hadir Ates vom Odak-Kulturzentrum in der Wolbecker Straße 1 auf das Podium. Der selbständige Apotheker gab dem Publikum einen Einblick in die von Solidarität geprägte Bildungs- und Begegnungsarbeit für Einheimische und Zugezogene des 1998 gegründeten Vereins. Beim Festival des Vielfalt versorgte das Odak die Besucher*innen mit Tee, Kaffee und kulinarischen Köstlichkeiten.

Werner Szybalski interviewt Saeid Samer.

Dr. Frank Biermann, selbständiger Journalist und Vorsitzender der Deutsche Journalistinnen- und Journalisten-Union (dju) in ver.di Münsterland, sprach mit Werner Szybalski über die häufig nicht einfache Situation der zahlreichen Soloselbständigen in Münster. Danach befragte Szybalski den sehr engagierten Saeid Samer, Referent für Flüchtlingsarbeit beim Evangelischen Kirchenkreis Münster. Samer berichtete von dem auch in Münster vorhandenen alltäglichem Rassismus und wie er bekämpft werden kann. Natürlich fragte er den gebürtigen Perser Samer auch nach der aktuellen Krise im Iran. Bei den Protesten, die ebenfalls durch Benzinpreiserhöhungen ausgelöst wurden, hätten in den vergangenen Tagen – so Saeid Samer – nach Aussage von Amnesty International schon 140 Demonstrant*innen für ihre öffentliche Kritik an der Staatsführung mit dem Leben bezahlen mussten.

Caro Burmester vom Unrast-Verlag und Alex Naniev vom Kollektiv „roots of compassion“ interviewte Jan Große Nobis. Beide schilderten eindrucksvoll von der täglichen Arbeit in ihren kollektiv organisierten Unternehmen. Leider gäbe es in Deutschland keine Gesellschaftsform, die es Menschen erlaube, ihre solidarischen Vorstellungen unter anderem mit Einheitslohn für alle im Kollektiv Beschäftigten umzusetzen. Auch das Finanzamt habe wenig Verständnis dafür, dass „die Kollektivmitglieder, die die rechtliche und finanzielle Verantwortung tragen, nicht mehr als die anderen verdienen würden.“

Jan Große Nobis (r.) sprach mit Caro Burmester (Unrast-Verlag) und Alex Naniev (roots of compassion) über ihre Berufstätigkeit im jeweiligen Kollektiv.

Nach dem letzten Gig des Nachmittags übernahm das Duo Cuppatea, bestehend aus Sigrun Knoche und Joachim Hetscher, Veranstalter des jährlichen „Woody-Guthrie-Festivals“ in Münster, die weitere musikalische Gestaltung von der Band Easy Cover Compact.

Sigrun Knoche und Jo Hetscher (Cuppatea).

Die ehemalige (und bislang einzige) Oberbürgermeisterin Münsters, Marion Tüns, stand anschließend Werner Szybalski Rede und Antwort. Sie bedauerte unter anderem, dass die rot-grüne Ratsmehrheit, die anders als zu ihrer Amtszeit nur mit den Stimmen der Linken möglich wäre, seit 2014 es nicht geschafft habe, an die erfolgreiche Zeit ihrer Amtsführung, die unter anderem das Umwelthaus, die autofreie Siedlung Weißenburg oder das Umwelthaus ermöglicht hatte, eine Fortsetzung fand. Szybalski erinnerte auch daran, dass nach ihrer Amtszeit Marion Tüns noch erfolgreich für die Einwohner*innen aktiv war, als sie gemeinsam mit Gewerkschaftler*innen mit einem Bürgerentscheid die Privatisierung der Stadtwerke verhinderte.

„Wie Unternehmen Sinn machen“ ließ sich Jan Große Nobis von Tobias Daur von der Regionalgruppe Gemeinwohl-Ökonomie Münsterland erklären. Während des Festivals bot die Gruppe zudem Workshops an, um über die antikapitalistischen Commons, „die Ökonomie des Gemeinsamen“, aufzuklären. Kernpunkte dieses Wirtschaftens sind selbstorganisierte Prozessen des gemeinsamen bedürfnisorientierten Produzierens, Verwaltens, Pflegens und / oder Nutzens.

Eines der Videos von Lothar Hill.

Dann öffnete Moderatorin Maria Buchwitz die Klappe für Menschenrechte. Im Gespräch mit Hannah Fischer von Vamos, für die Fischer die cineastische Veranstaltungsreihe „Klappe auf für Menschenrechte“ mit Filmen im Cinema organisiert hatte. Gemeinsam mit Schüler*innen des bischöflichen Gymnasiums Lohburg in Ostbevern hatte Vamos zudem Videos zum Thema produziert. Diese wurden ebenso wie der Film „Fatsa: Baharı örgütleyenler“ (Die Organisierung des Frühlings) von Süleyman Tarıncı im Foyer des Paul-Gerhardt-Hause von Filmemacher Lothar Hill gezeigt, der auch seine eigenen Münster Tube (Münster von unten)-Videos präsentierte.

Im Foyer des Paul-Gerhardt-Hauses gab es sieben Stunden lang Videos von Münster Tube (Lothar Hill), Vamos, Süleyman Tarıncı und Zwischenzeit zu sehen.

Die Lesung von Julia Fritzsche, deren Werk bei Werner Szybalski Auslöser für die Durchführung des Festivals der Vielfalt in Münster war, hatte am Vortag kurzfristig krankheitsbedingt absagen müssen. Die Lesung aus ihrem Buch „Tiefrot und radikal bunt“ mit der Journalistin vom Bayrischen Rundfunk wird am Montag, dem 9. Dezember, um 20 Uhr in der Zukunftswerkstatt (Schulstraße 45) nachgeholt.

Es gab aber keine Lücke im dicht getakteten Programm, denn extrem kurzfristig sprangen Dorit Siemers und Luz Kerkeling von der Initiative für soziale, ökologische und interkulturelle Forschung, Analyse und Bildung „Zwischenzeit“ ein. Sie stellten ihren neusten Film des aktuellen Projektes „Andere Welten vor der Haustür“ vor. Unter dem Motto „global denken – lokal handeln“ wurden in dem im Foyer gezeigten Film basisorientierte und kollektiv arbeitende Initiativen aus Deutschland und Europa vorgestellt.

Die Viertelkapelle Mauritz West, darunter auch der DJU-Gewerkschaftler Dr. Frank Biermann (2. v. r.) spielte für das Festival der Vielfalt erstmals außerhalb ihres Wohnquartiers.

Premiere auf der Festivalpremiere feierte die Viertelkapelle Mauritz West, die nach eigener Aussage „erstmals auf Tour “ war. Bislang waren die Musiker nur beim 4tel-Fest in ihrem Wohnquartier aufgetreten. Im Paul-Gerhardt-Haus brachten die Viertelmusiker die völlig ohne Strom intonieren, die Besucher*innen mit ihrem Blasinstrumenten in Bewegung. Am Ende erhielt die Viertelkapelle Mauritz West mindestens so viel Applaus, wie sie bei ihrer musikalischen Eröffnung des 4tel-Festes gewohnt sind.

Als vorletzten Programmpunkt des ersten Festivals der Vielfalt bat Werner Szybalski zur Podiumsdiskussion „Soziale Stadt. Offene Stadt. Ein Widerspruch?“ Maria Buchwitz von Pax Christi, Ulla Fahle vom Mieter/innen-Schutzverein, Dr. Bernd Drücke von der Graswurzelrevolution und Dr. Georgios Tsakalidis vom Integrationsrat der Stadt Münster auf die Bühne. Trotz grundsätzlicher Übereinstimmung alle Diskutant*innen gab es doch einige Diskussionspunkte über das richtige Verhältnis von Sicherheit und Freiheit auf kommunaler Ebene. An der rund einstündigen Diskussion beteiligte sich natürlich auch das Publikum.

Über die Frage „Soziale Stadt. Offene Stadt. Ein Widerspruch?“ diskutierten unter Leitung von Szybalski (Mitte) – von links nach rechts – Maria Buchwitz (Pax Christi), Ulla Fahle (Mieter/innen-Schutzverein), Dr. Bernd Drücke (Graswurzelrevolution) und Dr. Georgios Tsakalidis (Integrationsrat der Stadt Münster).
Bei Odak versorgte auch der Filmemacher Süleyman Tarıncı (2. v. r.) die Festivalgäste mit Tee, Kaffee und Gebäck.

Mit Infoständen waren beim Festival der Vielfalt die Seebrücke Münster, die DJU / Ver.di, die LEG Mieter*innen-Initiative, der Unrast Verlag, die Zeitschrift „LuftRuinen“, Pax Christi, das Mietshäusersyndikat, das Pflegebündnis Münster, die Rosta Buchhandlung, die Rosa-Luxemburg-Stiftung Nordrhein-Westfalen, die Zeitschrift Común, die Nationalparkreisen, Zwischenzeit, die Regionalgruppe Gemeinwohl-Ökonomie Münsterland, die VVN-BdA (Kreisvereinigung Münster des Bundes der Antifaschist*innen), das ODAK-Kulturzentrum und die Redaktion Graswurzelrevolution aktiv. Die Veranstaltung wurde finanziell gefördert durch die BI L(i)ebenswertes Uppenberg, den Integrationsrat der Stadt Münster sowie der Rosa-Luxemburg-Stiftung Nordrhein-Westfalen. Zudem fließt der gesamte Erlös des Getränkeverkaufs, den die LEG Mieter*innen-Initiative Münster organisierte, in die Festivalfinanzierung.

Fotonachweis für diesen Artikel: Pjer Biederstädt / WN (1), Jan Große Nobis (8), Lothar Hill (1) und Werner Szybalski (2).

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