Ist Russland unser Feind?

Pax Christi griff ein heißes Eisen auf, dass am Dienstagabend auf großes Interesse im Lesesaal der Stadtbücherei Münster stieß. „Russland – unser Feind oder Partner?“ lautete die Frage an den Journalisten Andreas Zumach, der unter anderem für die Tageszeitung (taz) aus Genf über die Schweiz sowie die UNO berichtet. Der Aktivist, Träger des Göttinger Friedenspreises 2009, war als Journalist hautnah dabei, als vor 30 Jahren die Berliner Mauer fiel und plötzlich auch eine friedliche, kollektive Welt eine realistische Option war. Zumal der frühere Staatspräsident der Sowjetunion, Michail Sergejewitsch Gorbatschow, die Hoffnung auf ein gemeinsames „Haus Europa“ zum Ausdruck gebracht hatte. In Münster ließ er in seinem engagierten Vortrag bei den Zuhörern durch seine Schilderung der Begegnung mit den politisch Mächtigen der damaligen Zeit fast den Eindruck entstehen, als würden sie selbst mit dem amtierenden deutschen Außenminister Hans-Dietrich Genscher im Flieger nach Ottawa sitzen.

Dort trafen im Februar 1990 die Außenminister der Bundesrepublik Deutschland, der DDR, Frankreichs, Großbritanniens, der UdSSR und der USA bei einem KSZE-Treffen zusammen und beschlossen die Aufnahme von Gesprächen über die „äußeren Aspekte der Herstellung der deutschen Einheit“.

Der gebürtige Kölner Zumach hatte in der westfälischen Friedensstadt ein Heimspiel, denn nur eine Frau im voll besetzen Saal hielt Russland für keinen geeigneten Partner für eine Zusammenarbeit mit Deutschland. Diese wiederum ist für den Menschenrechts-Aktivisten eine notwendige Voraussetzung für das friedliche Zusammenleben der Nationen.

Andreas Zumach, Friedensaktivist, Journalist und Publizist, referierte in Münster über die internationalen Beziehungen des Westens zu Russland.

Andreas Zumach erinnerte an wichtige historische Ereignisse der deutsch-russischen Geschichte der vergangenen 250 Jahre. Er unterstrich, dass der Westen immer nur so lange mit Russland kooperierte, wie es seinen Interessen diente. Bei aller Kritik an heutigen Menschenrechtsverletzungen in Russland, die er ausdrücklich missbilligte, habe aus seiner Sicht Deutschland aus drei Gründen eine besondere Verantwortung gegenüber Russland: Zuerst nannte Zumach den verbrecherischen Überfall auf Polen und später die Sowjetunion im Zweiten Weltkrieg, der insgesamt 60 Millionen menschenleben, darunter allein 20 Millionen in der UdSSR (den größten Blutzoll zahlte die damalige Sowjetrepublik Ukraine), forderte. Als Zweites führte er den Siebenjährigen Krieg an, als von 1756 bis 1763 Preußen mit Großbritannien / Kurhannover auf der einen und der kaiserlichen österreichischen Habsburgermonarchie, Frankreich und Russland sowie dem Heiligen Römischen Reich auf der anderen Seite sich bekämpften. Alle europäischen Großmächte jener Zeit warren militärisch involviert. Drittens führte er an, dass die mit Abstand meisten Atomsprengköpfe in Europa, für Zumach das Gebiet zwischen dem „Atlantik und dem Ural“, stationiert waren und sind.

Er selbst habe rund um den Mauerfall große Hoffnungen auf die kollektive internationale KSZE gesetzt, in der 35 Staaten aus beiden Blöcken und auch Blockfreie in Europa eng kooperierten. „Es gab tolle Pläne!“ Zumach unterstrich, dass heute niemand mehr ernsthaft daran zweifeln könne, dass zunächst der amerikanische Außenminister James Baker und zwei Wochen später auch Bundeskanzler Helmut Kohl und Außenminister Hans-Dietrich Genscher in Moskau versprochen haben, dass es keine Osterweiterung der NATO geben würde. Für Kohl sei die KSZE „das Herzstück der europäischen Architektur“ gewesen. Bekanntermaßen wurde dieses Versprechen vom amerikanischen Präsidenten Georg Bush (Vater), der „Verlierern keine Geschenke machen wollte“, nicht geteilt und auf Wunsch der an Russland grenzenden Staaten später auch gebrochen.

Anschließend widmete sich Andreas Zumach der aktuellen Situation, wobei der den Konflikt zwischen der Ukraine und Russland in den Mittelpunkt stellte. Er sei von Beginn an ein Gegner der auf amerikanisches Betreiben verhängten Sanktionen gegen Russland gewesen, denn „diese schädigen Russland nur wenig, aber auch zum Beispiel die deutsche und westeuropäische Agrarwirtschaft“. Unter Verweis auf öffentlich nahezu nicht kritisierte Völkerrechtsverletzungen (unter anderem nannte er den Luftkrieg zur Abspaltung des Kosovo von Serbien, den Irak-Krieg oder die jüngsten Anerkennungen der besetzten palästinensischen Gebiete durch israelische Siedler) verurteilte Zumach sowohl die heftigen westlichen Reaktionen auf diese, als auch die Abspaltung der Krim von der Ukraine. Er sieht aber in der unter dem neuen ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj eine Entwicklung, die ihm Hoffnung mache und Zuversicht gäbe. Die jüngste Rückgabe der ukrainischen Kriegsschiffe durch Russland, die Umsetzung der Minsk-Vereinbarung mit Gefangenenaustausch und Einrichtung einer Sicherheitszone (Truppenentflechtung) im Donbass nannte er als Beispiele.

Persönlich forderte er eine Einsetzung von Blauhelmsoldaten oder vergleichbare Truppen aus unbelasteten Staaten (Brasilien, Indien, etc.) sowie eine international, zum Beispiel durch die UNO, kontrollierte neue Abstimmung auf der Krim über ein Autonomieabkommen mit größter Selbstständigkeit gegenüber der ukrainischen Regierung in Kiew. Er äußerte die Hoffnung, dass beim kommenden Treffen der Regierungsverantwortlichen aus der Ukraine, aus Russland, aus Deutschland und aus Frankreich in Paris Beschlüsse in diese Richtung gefasst würden.

Maria Buchwitz von Pax Christi moderierte.

In der abschließenden Diskussion kamen viele Nachfragen, die Zumach bis auf die Diskussion mit den Befürwortern der Zugehörigkeit der Krim zu Russland, alle zur Zufriedenheit der Nachfragenden klären konnte.

Aus dem Nähkästchen oder korrekt gesagt aus Hintergrundgesprächen in Berlin und anderen Regierungssitzen plauderte Andreas Zumach, als er verdeutlichte: „Regierungsverantwortliche sprechen öffentlich noch von der möglichen Aufnahme der Ukraine in die NATO oder auch die EU. Tatsächlich gehen sie aber davon aus, dass dies in den kommenden 40 Jahren nicht möglich sein wird.“

Zudem verdeutlichte der Publizist, dass die treibende Kraft hinter der Osterweiterung der NATO – neben diesen Staaten selbst – die westliche Rüstungsindustrie gewesen sei: „Die wollen ihre Waffen auch bei uns in Europa gewinnbringend verkaufen.“ Seine Hoffnungen auf eine friedliche Welt beruhe aber nicht allein auf den Regierungen: „Dazu brauchen wir eine engagierte Zivilgesellschaft, die friedenspolitisch und völkerverbindend aktiv ist – auch zum Beispiel in Polen.“

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